Matt Haig – Die Mitternachtsbibliothek
Matt Haig – Die Mitternachtsbibliothek

Matt Haig – Die Mitternachtsbibliothek

Bereust du zu viel?

Genau mit dieser Frage muss sich die Protagonistin Nora Seed nach einem gescheiterten Selbstmordversuch in Matt Haigs Roman Die Mitternachtsbibliothek auseinandersetzten. Wider Erwarten befindet sich die 35-jährige Philosophin an jenem zeitlosen Übergangsort zwischen Leben und Tod – und begegnet dort ihrer ehemaligen Schulbibliothekarin Mrs. Elm, die ihr eine zweite Chance eröffnet. Denn die Regale der Bibliothek sind gefüllt mit Büchern über alternative Versionen von Noras Leben, das sich durch anderen Entscheidungsketten in verschiedenste Richtungen hätte entwickeln können. Die Protagonistin kann wählen, in welche Lebensgeschichte sie eintauchen möchte und in dieser anderen Realität dem Tod entfliehen, vorausgesetzt, sie kehrt wegen starker Reuegefühle nicht in die Mitternachtsbibliothek zurück. 

Doch solche Gewissensbisse verspürt die Protagonistin, bereits vor ihrem Suizid, zu genüge, sei es hinsichtlich ihrer beruflichen Karriere oder in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen. Für Nora sind diese Emotionen Indikatoren für persönliches Versagen und Fehlentscheidungen, sodass sie sich schuldig fühlt für schwierige Familienverhältnisse, die stockende berufliche Karriere, ihre gelöste Verlobung oder eine abgesagte Australienreise. Zu allem Überfluss konfrontiert Mrs. Elm sie nun mit diesen unliebsamen Gedanken, zusammengetragen im „Buch des Bereuens“, das Nora als Kompass für ihre Reise durch ein Multiversum an Alternativen dienen soll. Während der Erkundung ihrer anderen Schicksaleerfährt Nora, dass sie das Ausmaß ihres Handelns nie richtig einschätzen kann und sich scheinbar ideale Lebenskonzepten schlussendlich als enttäuschend erweisen. DieseErkenntnisse erwecken Noras Lebenswillen, doch die Regeln der Mitternachtsbibliothekgebieten ihr Einhalt, da ihr nur ein begrenztes Kontingent für das Eintauchen in Alternativleben zur Verfügung steht. Sobald der Lauf der Zeit einsetzt, droht die Protagonistin endgültig zu sterben. Doch wird Nora es schaffen, sich langfristig in ein eigenes, und doch fremdes Leben einzufügen, von dem sie viele Jahre selbst nicht miterlebt hat?

„Die kaum bekannten Realitäten des Multiversums“

Matt Haigs Roman Die Mitternachtsbibliothek balanciert gekonnt auf einer Grenze zwischen Fantastik, Phänomenen des menschlichen Bewusstseins und Erkenntnissen der Quantenphysik. Hervorzuheben ist dabei Haigs deskriptiver Schreibstil, welcher das Thema Depression ehrlich und sensibel behandelt, indem die Leser:innen direkt mit den Suizidgedanken der Protagonistin konfrontiert werden, aber auch mit dem Prozess hin zu neuem Lebensmut. Nichtsdestotrotz sollte man hier wegen der Beschreibung der Gedankengänge zu Beginn des Buches eine Triggerwarnung aussprechen.

Fast jedes Kapitel während Noras Reise durch ihr Multiversum aus Parallelleben birgt eine neue Geschichte in sich. Die Schilderung vielfältiger Erfahrungen, kombiniert mit einer erzählerischen Tiefe, erzeugen greifbare Emotionen und großes Identifikationspotenzial für Lesende. Besonders interessant ist die rasante Charakterentwicklung der Protagonistin im Verlauf des Romans und das kluge Ende, welches die Botschaft des Buchs auf den Punkt bringt. Matt Haigs Romans formuliert einen tiefgründigen Appell an das Potenzial des eigenen Lebens und unerkannte Chancen, die sich hinter Schuldgefühle und spekulativen Gedanken über die Frage „Was wäre, wenn?“ verbergen.

von Elisa-Maria Kuhn

© Droemer Knaur

Matt Haig
Die Mitternachtsbibliothek
Aus dem Englischen von Sabine Hübner
Droemer 2021
320 Seiten
20 Euro

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